„Na ja freiliegende blanke spannungsführende Drähte bei einem Meisterstück? Da hat wohl auch noch jemand rumgebastelt oder?“ meinte er. Und er hatte Recht. Aber da mich momentan nur elektrische Uhren interessieren, habe ich mal einen Blick drauf geworfen. Und tatsächlich sah das Ganze von hinten nach einem alten Bekannten aus. Kienzle 606, das altbekannte Klappankerwerk, aber von vorne eine sehr interessante Uhr.
Nach einer guten Woche war die Uhr also hier.


Und von hinten gab es den alten Bekannten zu sehen – in kräftiger Abwandlung natürlich.

Und mit ihr kam viel Licht, aber auch viel Schatten:
Zunächst zum Schatten:
1. Das Zifferblatt war verdreht, was kein großes Problem war. Die Uhr musste nur einmal richtig zusammengebaut werden.
2. Leider muss sie irgendwann mal heruntergefallen sein, denn dabei ist so einiges zu Bruch gegangen. Das kleinste Problem war, dass das Kienzle-Aufzugrad beim Sturz beschädigt wurde. Es wurde mit so viel Kraft in Richtung Spule geschlagen, dass einige Zähne geplättet wurden. Weil es aber genug Ersatzteile, auch bei mir, gibt, war das kein eigentliches Problem.
3. Die Batterie war wohl mal ausgelaufen. Daher wurde der Batteriekasten durch ein Teil ersetzt, welches aus einer Quartzuhr herausgesägt worden war. Die Kontaktierung war so mies, dass die Uhr gar nicht laufen konnte.
4. Bei diesem Sturz wurde auch die Unruhwelle beschädigt: Ein Zapfen wurde so gegen den Deckstein gehämmert, dass dieser zerbrochen ist. Der Zapfen wurde breit geschlagen und ließ sich daher kaum aus dem Lochstein ziehen. Das wäre alles noch kein Problem gewesen, wenn nicht der gegenüberliegende Zapfen dermaßen krumm gewesen wäre, dass ein Richten wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Natürlich ist er beim Versuch des Richtens abgebrochen.
5. Die Unruhwelle ähnelte keiner fertigen, die man hätte abändern müssen, auch nur im entferntesten. Also blieb nur eine Neuanfertigung.
6. Ein Stein wurde beim Sturz auch noch zerbrochen und musste ersetzt werden.
7. Eine Kleinigkeit noch: Der Stellknopf ist verloren gegangen. Da er durch keinen Weckerstellknopf zu ersetzen war, musste er angefertigt werden. Eine kleine Arbeit an der Drehbank, u. a. zum Rändeln.
Übrigens lief die Uhr sogar noch, wenn man sie mit den 1,5 Volt versorgte.
Und jetzt kommt das Licht: Das Meisterstück ist von einem Meisterschüler angefertigt worden, der wirklich gut war. Das zeigt sich in vielen Details:
1. Die Uhr sieht in der Realität viel besser aus als auf den Bildern. Sie ist richtig schwer und wirkt im Zifferblatt- und Werkbereich wunderbar räumlich.
2. Zwei Wellen (Minutenrad und Kleinbodenrad) wurde rissfrei poliert, das war wohl die Anforderung für das Meisterstück.
3. Zwei Steine mussten gefasst werden, der Rest der Steine wurde gepresst. Die ganze Uhr ist mit Steinen ausgestattet, also 17 Stück.
4. Alle Passungen waren äußerst genau ausgeführt.
5. Die Eingriffe laufen seidenweich.
6. Die Unruh hat nicht nur Regulierschrauben, sondern auch Einstellschrauben. Und diese waren alle genau gleich herausgedreht, in der Mitte ihrer Gewinde.
7. Der Schüler hat eine tadellose Breguet-Spirale gebogen, wohl auch Anforderung des Stückes.
8. Die Kloben sind sehr gut verarbeitet. Die Kanten sind angliert und poliert.
9. Gehäuse Werk und Zeiger sind schön vergoldet. Nur bei der Rückseite wurde gespart.
Also lohnte sich die zugegebenermaßen reichliche Arbeit trotz alledem.
Eine der einfachsten Übungen war, eine vernünftige Batteriehalterung einzubauen. Da es ohnehin nicht bekannt war, was ursprünglich verwendet wurde, habe ich eine Batteriehalterung hoher Qualität eingebaut. Die zerbrochenen Steine wurden ersetzt, ebenso das Antriebsrad des Kienzle-Aufzuges. Auch die Feder wurde durch ein besser erhaltenes Exemplar ersetzt. Am meisten Arbeit machte natürlich Anfertigung und Ersatz der Unruhwelle. Ich habe diesmal ein anderes Verfahren als sonst ausprobiert und muss sagen, dass es sich bewährt hatte: Ich habe auf nachträgliche Härtung der Roh-Unruhwelle verzichtet und sofort ein blauhartes Stück Stahl genommen, also Tamponstahl. Ein Versuch, den Stahl mit der Säge beizukommen, hat sofort das Sägeblatt gekostet. Das Drehen mit HSS- und Hartmetall-Drehmeißel hat natürlich mehr Mühe gemacht, dafür konnte ich schon auf der Drehbank die Passungen für Unruhreif und Plateau perfekt ausführen. Für Zapfenarbeiten ist natürlich der Rollifit mit Hartmetallscheibe Gold wert.
Die Unruh musste nicht ausgewuchtet werden. Wahrscheinlich lag es daran, dass der Unruhreif aus Glycidur gefertigt war, und dass die Passung des Reifs auf den Unruhansatz perfekt vorbereitet werden konnte.
Jetzt läuft sie wieder. Hier ein paar Bilder.



Auffällig ist, dass die Unruh „falsch“ zusammengebaut worden ist, und zwar von Beginn an. Die polierte Seite des Unruhreifs konnte so von der Zifferblattseite der Uhr bewundert werden, während die Spirale vom Betrachter abgewendet ist. Auch das hatte so seinen Sinn.

Sehr sorgfältige Ausführung der Hemmungspartie: Sehr schöner Ankerkloben.


Die Arbeit hat viel Mühe gemacht, denn die Anfertigung einer Unruhwelle ist nicht unbedingt meine Lieblingsbeschäftigung. Aber die Mühe hat sich wahrlich gelohnt. Denn es ist ein wirklich schönes Stück hochwertiger Uhrmacherkunst.
Frank
PS: Weil es sowieso kein Geheimnis ist (Angebot in der Bucht):
Das Meisterstück kam aus dem Jahre 1970, der Schüler hieß Helmut Feldmann. Wer weiß, in welcher Meisterschule um diese Zeit solche Meisterstücke hergestellt wurden?
F