Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

walter der jüngere

Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von walter der jüngere » Sa 7. Dez 2013, 22:19

Hallo,

um die Zeilen von droba noch etwas zu ergänzen:

Es ist belegbar, daß es in den 30'er Jahren, also recht früh, Kontakte zwischen der Fa. Thiel und der russischen Uhrenindustrie gab, einen gewissen, durchaus auch politisch motivierten Personalfluß gen Moskau soll es auch gegeben haben.

Das hauptsächliche "Startkapital" der 1. Moskauer Uhrenfabrik kam zunächst offenbar aber aus den USA:
Sowohl die inzwischen aus zwei Firmen zusammengeführte Fabrik Dueber-Hampden,
(inkl. aller noch vorhandenen technischen Unterlagen, allem noch vorhandenen Rohmaterial (welches mehr als ausreichend für den Produktionsstart in Russland war), inkl. vielen Rohwerken, Teilen, und vieler Produktionsmuster) - aus der die Armband- und Taschenuhrproduktion in Russland entstand

als auch die Maschinen und das übrigen Inventar der Ansonia Clock Factory
(deren Produktionsschwerpunkt seit 1850 auf Großuhren lag; seit 1904 wurden dort aber auch recht robuste Billigtaschenuhren gefertigt) mit denen (nach einigen Transportschwierigkeiten) in Moskau schon bald nach der Ankunft dort wieder die Produktion von Großuhren aufgenommen werden konnte

wurden weitgehend komplett nach Russland verkauft - und dort teilweise wieder neu aufgebaut.
Geleitet wurde das Ganze durch eine staatliche Kommission, die um 1928 extra für den Aufbau einer eigenständigen (also vom Ausland komplett unabhängigen), industriellen, sowjetischen (staatseigenen) Uhrenproduktion gebildet worden war.
Viel Personal holte man sich dann - da es einige Anlaufschwierigkeiten gab - übrigens aus der Schweiz.
Ebenso wie viele Schweizer Modelle in den frühen Jahren der sowjetischen Uhrenfertigung dort offenbar zum Vorbild künftiger Eigenentwicklungen genommen wurden.

So ganz nebenbei bemerkt:
Wenn man sich die in Westeuropa bekannten Produkte der dortigen Kleinuhrenfertigung anschaut, so kann man durchaus (zunächst) erstaunt feststellen - die dortige Armband- und Taschenuhrproduktion brachte keine der sog. "Billigvarianten" (also Werke mit Stiftankerhemmung; im Gegensatz etwa zur Firma Thiel) hervor. Und dies aus guten Gründen...

Walter d. J.

DerSigi
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Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von DerSigi » Sa 7. Dez 2013, 23:39

Hallo droba, hallo Walter,

vielen Dank für Eure sehr ausführlichen Antworten!

Wie kam es den das sich die Firmen 'Dueber-Hampden' und die 'Ansonia Clock Factory' in Russland engagierten? Ist das bekannt?

LG
Sigi

walter der jüngere

Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von walter der jüngere » So 8. Dez 2013, 02:34

DerSigi hat geschrieben:Hallo droba, hallo Walter,

vielen Dank für Eure sehr ausführlichen Antworten!

Wie kam es den das sich die Firmen 'Dueber-Hampden' und die 'Ansonia Clock Factory' in Russland engagierten? Ist das bekannt?

LG
Sigi
Hallo,

um es kurz und knapp zu beantworten:

Die beiden Firmen engagierten sich nicht von sich aus in Russland.
Beide Firmen waren einigermaßen bankrott, das Material usw. stand daher zum Verkauf / Liquidation / Verwertung, wie immer man das auch bezeichnen mag. Und wurde von der UdSSR aufgekauft.

Beide Firmen wurden mit allem, was davon käuflich zu erwerben war, von der sowjetischen Regierung aufgekauft, einige Arbeiter (denen sonst - so wie ihren Kollegen - ziemlich sicher die Arbeitslosigkeit gedroht hätte) gingen mit den Maschinen und dem sonstigen Inventar mit nach Moskau, um dort etwas Neues aufzubauen.
Man bedenke: Es gab nach einer zunächst sehr starken industriellen Expansion auf dem Uhrensektor zu dieser Zeit - international betrachtet - eine gewisse Marktsättigung, so gesehen eine Marktbereinigung.
Hinzu kam die allgemeine Weltwirtschaftskrise...
Diesen Gegebenheiten fielen u.a. eben auch diese beiden Firmen zum Opfer. Und es gab auf der anderen Seite der Welt ein Land, welches noch Wachstums- und Entwicklungspotentiale für sich sah, dieses suchte und handelte dementsprechend und damit wanderten Material und Menschen dorthin...
Und das Angebot war dafür ja fast wie maßgeschneidert - mit diesem Grundstock ließ sich dort in kürzester Zeit etwas Neues ziel- und zweckorientiert aufbauen.
Die sowjetische Regierung beabsichtigte, damit den Bedarf an Uhren aller Art innerhalb dieses riesigen Landes in absehbarer Zeit völlig unabhängig von (weiteren) Importen eigenständig decken zu können.
Daher der Ankauf der kompletten Fabriken. Mit diesem Grundstock usw. war es möglich
- in sehr kurzer Zeit selbständig Uhren aller Art herstellen zu können
- und man hatte damit Vorbild und Muster für die eigenständige (Weiter-)Entwicklung und Herstellung entsprechender Fertigungsanlagen (Maschinen, Werkzeuge usw.).
Erklärtes politisches Ziel war das Entstehen einer völlig autarken staatlichen Uhrenindustrie in der Sowjetunion.

Hier wird - wieder einmal - ganz gut deutlich erkennbar, daß Politik, Weltgeschehen, Bedarf, technische Entwicklung, Bedürfnisse des Einzelnen usw. untrennbar miteinander verbunden sind.
Ähnliches - dies nur am Rande bemerkt - trug z.B. auch zur Entstehung der Schweizer Uhrenindustrie bei...

Walter d. J.

walter der jüngere

Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von walter der jüngere » So 8. Dez 2013, 03:12

Hallo,

eines bitte ich noch zu bedenken:
Russland (Zarenreich bis etwa 1917); Sowjetunion / UdSSR; Russland / Russische Förderation (ab etwa 1991).
Mit jeder diesen Bezeichnungen sind riesige politische und damit auch wirtschaftliche Veränderungen jeweils einhergegangen bzw. verbunden.

Mir fiel und fällt es schwer, immer die jeweils konkret politisch korrekte Bezeichnung zu verwenden.
Natürlich kann dies - von mir völlig unbeabsichtigt - zu schwerwiegenden Mißverständissen usw. führen.
Ich bitte dies beim Lesen meiner Beiträge wohlwollend zu bedenken - und zu entschuldigen.

Walter d. J.

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droba
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Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von droba » So 8. Dez 2013, 10:36

DerSigi hat geschrieben:Hallo droba, hallo Walter,

vielen Dank für Eure sehr ausführlichen Antworten!

Wie kam es den das sich die Firmen 'Dueber-Hampden' und die 'Ansonia Clock Factory' in Russland engagierten? Ist das bekannt?

LG
Sigi
Hallo Sigi,

Dueber-Hampden und Thiel haben sich naürlich aus sehr nachvollziehbaren Gründen engagiert. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern man ließ sich den Technologie-Transfer in harter Währung bezahlen. Und die Regierungen verknüpften das Geschäft mit anderen Leistungen: Die deutsche Regierung ließ sich von den Russen begehrte Rohstoffe liefern.

Für das besondere Engagement von Thiel spricht, dass Thiel sowohl das Know-How, wie auch die Maschinen liefern konnte- Ich glaube Dueber-Hampden war zur Lieferung von Maschinen nicht in der Lage.

Um nochmals zu unterstreichen, warum die Russen an der Uhrentechnik interessiert waren: Den Russen ging es natülich weniger darum, für ihre Bevölkerung zu einer eigenen Herstellung von Uhren zu gelangen, sondern die Uhrentechnik war zu dieser Zeit weltweit noch Technologie-Träger Nummer 1. Ein Land, das in der Lage war, Uhrwerke herszustellen, war sowohl technologisch, wie auch fertigungstechnisch auf der Höhe der Zeit und Uhrentechnik war auch besonders im militärischen Bereich ungeheuer wichtig. Nicht zufällig waren die deutschen Uhrenhersteller im Krieg die wichtigsten Rüstungsbetriebe der Nation mit einem sehr hohen Anteil an ausländischen Zwangsarbeitern.

droba

walter der jüngere

Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von walter der jüngere » So 8. Dez 2013, 12:37

droba hat geschrieben:
Hallo Sigi,

Dueber-Hampden und Thiel haben sich naürlich aus sehr nachvollziehbaren Gründen engagiert. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern man ließ sich den Technologie-Transfer in harter Währung bezahlen. Und die Regierungen verknüpften das Geschäft mit anderen Leistungen: Die deutsche Regierung ließ sich von den Russen begehrte Rohstoffe liefern.

Für das besondere Engagement von Thiel spricht, dass Thiel sowohl das Know-How, wie auch die Maschinen liefern konnte- Ich glaube Dueber-Hampden war zur Lieferung von Maschinen nicht in der Lage.

...

droba
Hallo,

@droba:
Worauf/auf welche Quellen stützen Sie Ihre Behauptungen?

Meine Datenlage lässt einen Großteil dieser Rückschlüsse jedenfalls nicht zu.

Walter d. J.

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droba
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Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von droba » So 8. Dez 2013, 18:04

Walter, ich sehe, dass im "Lexikon der deutschen Uhrenindustrie 1850-1980" in der Firmenbeschreibung Thiel ein bisschen über die Beziehungen von Thiel nach Russland in den 1930er Jahren nachgelesen werden kann. Im Übrigen bin ich aber auf diese Informationen gestoßen, als ich mich vor einiger Zeit mit der Entwicklung und der Geschichte der Firma Thiel beschäftigt habe.

Ich will nicht ausschließen dass Dueber-Hampden oder Ansonia doch Fertigungsanlagen in die UDSSR geliefert haben. Denn sicherlich haben die Russen damals auch mit mehreren Firmen verhandelt. Auch wird Thiel natürlich versucht haben, nicht die allerneueste Technologie zu liefern, sondern diese für die eigene Fertigung zu reservieren. (Das machen heute die europäischen und amerikanischen Firmen ja auch nicht anders, wenn sie in China selbst oder im Auftrag produzieren lassen, um den chinesischen Markt beliefern zu können!)

Die russische Fertigung von Taschen- und Armbanduhren dürfte also doch recht stark durch die Firma Thiel unterstützt worden sein. Dass die Russen dann nicht die einfache Gebrauchsuhren hergestellt haben, belegt ja, dass sie die höherwertige Uhrentechnologie und damit bevorzugt aus militärischen Gründen gesucht haben. (für Beobachteruhren und sonstige präzise Uhren)


Aber, wie mehrfach erwähnt, mir sind ebenfalls keine ausführlichen Quellen bekannt, in denen sich die Beziehung der Firma Thiel nach Russland gesammelt nachlesen lässt. Dr. Reinhold Thiel, der Chef der Firma Gebr. Thiel, war aber in den 1930er Jahren einer der wichtigsten und einflussreichsten Industriellen in Deutschland. Er wandelte die Firma Thiel schon in Friedenszeiten zum größten deutschen Rüstungsbetrieb um, auch war er die führende Persönlichkeit in den Wirtschaftsverbänden der Nazizeit- unter anderem im "Verband der deutschen Uhrenindustrie". Unter seiner Leitung wurde die Firma Thiel sogar zum "Nationalsozialistischen Musterbetrieb" ausgerufen. Nach dem Krieg wurde Reinhold Thiel und seine Familie dann von den Alliierten enteignet und er wanderte wegen seiner Nazi-Vergangenheit auch für einige Jahre hinter Gitter. Aber das führt jetzt doch etwas vom Thema weg ...

Ohne den Anteil von Ansonia und anderen Firmen leugnen zu wollen: Mir erscheint der Anteil der Firma Thiel an der Fertigung von Taschen- und Armbanduhrenwerke in Russland doch sehr wichtig und auch maßgeblich zu sein.


droba

walter der jüngere

Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von walter der jüngere » So 8. Dez 2013, 19:23

Hallo,

es gibt mindestens eine Publikation (übrigens aus dem Hause Ruhla), worin der Aufbau und Zusammenarbeit mit der UdSSR u.a. auch vor dem zweiten Weltkrieg ziemlich exakt beleuchtet wird und auch ziemlich detailliert auf den Aufbau der sowjetischen Uhrenindustrie eingegangen wird.
Z.B. darin wird ziemlich klar beschrieben, wie knapp und begrenzt der materielle Austausch zwischen Thiel und Moskau war: Ich zitiere - aufgrund des Zitatrechts nur in knappen Auszügen:
"Der Thiel Konzern exportierte keine einzige Uhr in die Sowjetunion."
...
" ..Die sowjetische Regierung bemühte sich in der Schweiz und in Deutschland - darunter auch bei der "Gebrüder Thiel GmbH Ruhla" - Ausrüstungen für den Aufbau einer eigenen Uhrenproduktion zu kaufen. Doch alle Konzerngewaltigen lehnten rigoros ab. Sie befürchteten,"
...
"... es gelang schließlich ... ein komplettes Werk in den USA zu kaufen und in Moskau wieder aufzubauen..."
Auch wird da und in anderen Publikationen z.B. vermerkt, daß dann doch noch (vergleichsweise wenig) Maschinen in Deutschland und der Schweiz erworben werden konnten. Und: Das - in o.g. Publikation namentlich erwähnt - die Firma Thiel Maschinen zur Uhrenproduktion an die Sowjetunion nur aus Profitgründen verkaufte. Und das offenbar auch nur für einen sehr kurzen Zeitraum (ein Berichtsjahr).

Sicher auch aus beidseitigen politischen Veränderungen der jeweiligen Länder usw. heraus...

Wenn man sich den von mir schon erwähnten "Katalog zur Uhrenausstellung Russland International" durchliest - auf den ersten 54 (!) Seiten steht sehr viel über den Aufbau und die Entwicklung der modernen russischen Uhrenindustrie - wird man auf weitere diesbezüglich sehr interessante, und meine Aussagen bestätigende Details (u.a. auch über Ansonia und Duebener-Hampden) stoßen.
Aber auch die Lektüre der beiden Bücher über die russischen bzw. sowjetischen Armband- und Taschenuhren bringt weitere interessante Details zutage.
Ebenso, wenn man im Internet entsprechend sucht (z.B. bei Wikipedia).

Also: Lesen, lesen, lesen.
Auch wenn das Ganze nur "angelesenes Wissen" zum Ergebnis haben kann - wir waren alle nicht dabie, konnten alle nicht dabei sein, als dies und jenes geschah...
Also hilft es m.E. nur, zu Lesen, um Verstehen und Lernen zu können.

Walter d. J.

DerSigi
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Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von DerSigi » So 8. Dez 2013, 20:21

Hallo,

ich möchte Euch allen für die vielen ausführlichen Antworten danken! Ich habe nun nicht nur ein paar interessante Literaturvorschläge sondern auch schon einiges zur Geschichte der Uhrenproduktion in Russland erfahren. Als ich dieses Thema begann, hatte ich nicht erwartet so viele Informationen zu erhalten. Ich bin positiv überrascht und beeindruckt von der hier vorhandenen Fachkompetenz!

Vielen Dank!

LG
Sigi

Thorsten Schreiber
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Re: Geschichte der Uhrenproduktion in Russland

Beitrag von Thorsten Schreiber » So 8. Dez 2013, 20:40

Sigi, ich habe jetzt zwar nicht so viel dazu beigetragen, sage aber trotzdem: Keine Ursache und danke für Deine netten Worte! :)

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