Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Großuhr?

Vorstellung von Uhren und Uhrensystemen
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Typ1-2-3
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Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Großuhr?

Beitrag von Typ1-2-3 » So 20. Jul 2014, 16:53

Wenn man das Möbelstück von hinten betrachtet, erinnert es sehr stark an ein frühes Röhrenradio, die Papprückwand, der gesamte Aufbau, alles.

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Auch der Knopf am Ende erinnert stark an frühe Röhrenradios:

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Erst wenn man die Sache umdreht, erkennt man die Uhr:

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Das Gehäuse ist sehr hochwertig gemacht. Die Erinnerung an ein frühes Röhrenradio kommt allerdings nicht von Ungefähr: Die Uhren wurden in einer Firma hergestellt, die tatsächlich vor und nach dem WWII hochwertige Radios gebaut haben.

Der Besitzer von TELAVOX hieß Clemen Jørgensen, ein Däne. Er war gelernter Uhrmacher und begann 1924 in seiner Freizeit in einem Hinterhof, Lautsprecher zu bauen. 1925 hörte er als Uhrmacher auf und gründete mit seinem Bruder eine Möbelschreinerei und baute schließlich Röhrenradios. Daher auch die hochwertigen Holzgehäuse. Der Name TELAVOX stammt aus dem griechischen/lateinischen und bedeutet ’Die ferne Stimme’. 1927 hatte die Firma 30 Angestellte, 1943 waren es 250. Im 2. Weltkrieg wurde die Herstellung von Radios von der deutschen Besatzungsmacht verboten, außerdem gab es einen Mangel an Messing und Kupfer. Um seine Firma erhalten zu können, entwarf der Besitzer 2 Uhrwerke, eines mit Schlagwerk und eines ohne, die mit wenig Messing und Kupfer auskamen. Die Uhren mit Schlagwerk sind viel häufiger zu finden als diejenigen ohne. Hier 2 Links zu Uhren, die im Forum schon vorgestellt wurden:

http://www.dg-chrono.info/dg-chrono.de/ ... ox&start=0

http://www.dg-chrono.info/dg-chrono.de/ ... vox#p17905

Die hier vorgestellte Uhr hat das seltene Uhrwerk ohne Schlagwerk, was bis auf das außergewöhnliche Schwingsystem gänzlich anders funktioniert: Das Schlagwerk-Uhrwerk hat eine normale Stiftankerhemmung, während dieses Uhrwerk das Schwingsystem direkt elektromechanisch antreibt und das Räderwerk nur weiterschaltet.

Das Uhrwerk kommt einem recht verloren im Gehäuse vor, dagegen ist die Batterie (3 Volt, im Gegensatz zu der Schlagwerkuhr mit 4,5 Volt) ein dicker Klotz rechts im Gehäuse.

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Deutlich zu erkennen ist das typische Schwingsystem von Telavox. Es ist in einem Rahmen aus Stahlblech aufgebaut und funktioniert ohne Unruhwelle und damit äußerst reibungsarm. Die Funktion ist so:

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Die Spannfeder ist gleichzeitig Spirale und Unruhwelle. Beim Schwingen der Unruh verkürzt sich die Spannfeder durch Torsion. Damit die Kräfte, die auf die Spannfeder einwirken, dadurch nicht zu groß wurden, wurde die Feder Nr. 20 (Siehe Abbildung des Patents) als Entlastung eingebaut.

Bei Stößen von außen konnte das Schwingsystem zur Seite nachgeben. Nach Art einer Stoßsicherung bei Kleinuhren gab es einen Anschlag der eigentlichen Unruh durch die Bleche 34 und 36, die dann mit den Rollen 28 zusammenarbeiteten. Dadurch wurde das Schwingsystem ziemlich robust. Die grobe Regulierung im Herstellungswerk erfolgte durch Herein- oder Herausdrehen der Regulierschrauben 16 oder durch unterschiedlich schwere Gewichte. Vom Benutzer konnte die Uhr durch eine Art Rücker reguliert werden. Die Rändelschraube 62 schob die Feder 58 nach oben, die bei 60 eine Gabel hatte, wie bei Kleinuhren. Durch die Gabel konnte durch Totlegen eines Teiles des Spanndrahtes die Uhr reguliert werden.

Quasi identisch mit der Uhr mit Schlagwerk ist auch der grundsätzliche Aufbau mit Platinen aus Pertinax und Rädern aus Messing.

Interessant und außergewöhnlich ist der Antrieb dieses Schwingsystems. Dieser Antrieb funktioniert nicht wie eine traditionelle Hemmung, sondern rein elektromechanisch. Scheinbar hat Clemen Jørgensen bei einem frühen Hersteller von Elektrouhren abgeschaut: Die amerikanische Jahresuhr von Tiffany funktioniert ähnlich wie diese. Nur, dass dieses System auch wirklich funktioniert, was man von den Uhren von Tiffany nicht unbedingt behaupten kann. Wahrscheinlich durch die sorgfältigere Fertigung!

http://www.dg-chrono.info/dg-chrono.de/ ... any#p24156

Die folgenden 6 Bilder sollen die Funktion der „Hemmung“ deutlich machen:

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Dieses Bild zeigt den Antrieb der Uhr mit abgebauter oberer Platine. Man kann die Spannfeder des Schwingsystems und das Räderwerk erkennen. Auf der rechten Seite die Antriebsspule der Uhr, die bei jeder Schwingung angesteuert wird.
Ohne Räderwerk, Spule und Schwingsystem kann man die Einzelteile des Unruhantriebs besser erkennen:

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Auffällig ist das Sekundenrad S mit 60 Zähnen und der Sekundeneinteilung. Dieses wird von der Schaltklinke SK weitertransportiert. Außerdem gibt es noch den Hebel A in Form eines Eies, den Hebel H mit seiner Rastklinke HK. Als wesentliches Bauteil benennt K den Kontakt. Der eiförmige Hebel A ist an einem Magnetanker befestigt, der sich unter der Pertinaxplatine befindet.

Die nächste Abbildung zeigt, dass am Anfang des Unruhantriebs der Stift des Schwingsystems den Kontakt berührt. Dazu ist am Stift ein kleines Goldstückchen befestigt. Der Pfeil zeigt die Berührungsstelle.

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Sobald der Kontaktschluss stattgefunden hat, bewegt sich der (hier unsichtbare) Anker und dreht den Hebel A, welcher eiförmig ist. Mit seiner oberen Rundung hebt dieser den Hebel H hoch, gleichzeitig wird das Sekundenrad über SK transportiert. Die Pfeile auf der nächsten Abbildung zeigen den Vorgang.

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Weil der Hebel H an seiner Vorderseite einen Haken HK hat, bewegt er den Stift auf dem Schwingsystem nach links und hakt sich dann fest. Dabei bekommt das Schwingsystem seinen (übrigens immer konstanten) Antrieb, und der Kontakt wird wieder geöffnet. Der Kontaktschluss findet also nur einen sehr kurzen Moment statt, das aber bei jeder Schwingung.

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Durch die Kontaktöffnung bewegt sich der eiförmige Hebel A wieder zurück, während Hebel H unter dem Stift des Schwingsystems eingehakt bleibt und das Schwingsystem weiter antreibt. Während des Ergänzungsbogens (nächstes Bild) wird der Haken HK am Hebel H wieder losgelassen, Hebel H fällt wieder zurück und das Spiel beginnt von vorne.

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Wenn der Kontaktschluss sicher ist, sollte dieses System genau laufen, bis die Batterie leer ist und die Uhr stehen bleibt.

Leider hat das System 2 gewaltige Nachteile, was wohl dafür sorgte, dass sich diese Uhren ohne Schlagwerk nicht weiter verbreitet haben.

Der Stromverbrauch ist relativ hoch, der Widerstand der Spule ist nur 23 Ohm. Und in jeder Sekunde wird der Stromkreis einmal geschlossen. Lange werden die Batterien nicht halten, aber das muss erst ausgetestet werden.

Weiterhin sind die Schaltvorgänge wirklich laut. Die Uhr tickt sehr deutlich vernehmbar und zeigt allen, die sich im Raum befinden, deutlich ihre Arbeit an. Selbst in meiner Werkstatt, in der sich mehrere Uhren befinden, übertönt dieses System alle anderen Uhren.

Ansonsten eine wirklich außergewöhnliche Lösung, eine recht wartungsfreundliche, genaue Uhr zu bauen, die einen konstanten Antrieb hat.

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droba
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Re: Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Groß

Beitrag von droba » So 20. Jul 2014, 20:58

Hallo Frank,

herzlichen Dank für diese außergewöhnliche Präsentation einer sehr seltenen Uhr. Nicht nur die Technik hast Du perfekt erklärt und in Bildern dargestellt, auch zur Firmengeschichte Telavox lieferst Du äußerst interessante Details. Ein wirklich sehr schöner Bericht!

Dieser Bericht sollte unbedingt in der Jahresschrift der DGC zu erscheinen! Wie wär´s?

droba

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Der_Stromer
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Re: Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Groß

Beitrag von Der_Stromer » Di 22. Jul 2014, 15:35

Vielen Dank für diesen sehr interessanten und lehrreichen Beitrag über eine außergewöhliche Uhr und den Hersteller.
Hallo aus der Oberpfalz
Rolf-Dieter, der Stromer

http://www.rolf-dieter-reichert.de

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Re: Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Groß

Beitrag von KleineSekunde » Di 22. Jul 2014, 23:40

Hallo Frank,

vielen Dank für diesen sehr schönen, ausführlichen und sehr gut bebilderten Bericht zu einer doch eher ungewöhnlichen Uhr!

Ich gebe gerne zu, dass es bei mir etwas dauert, sich in die Funktion hinein zu versetzen und ich die verschiedenen Fotos mehrfach angeschaut habe, um die Vorgänge dann auch nachvollziehen zu können... Ja, die Uhr ist wohl ungewöhnlich und bemerkenswert!

Wünsche dir jedenfalls viel Spaß und Freude damit!

Schöne Grüße

Guido / KleineSekunde

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Typ1-2-3
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Re: Röhrenradio–oder doch eine interessante elektrische Groß

Beitrag von Typ1-2-3 » Mi 23. Jul 2014, 08:34

Guido, ich gebe es ja zu: Es ist schon schwierig, sich den Bewegungsablauf der "Hemmung" nur anhand von Abbildugen festzustellen. Auch ich musste mich erst reindenken. Es war aber dadurch etwas einfacher, weil ich nur eine Batterie reinhängen musste, und dann konnte ich mir das Schauspiel in Bewegung ansehen. Viel schwieriger ist es, wenn man einen unbekannten Mechanismus in der Hand hat, der dann noch nicht einmal funktioniert. In diesem Fall war das ungeahnt einfach, weil auch die Uhr als "Funktioniert nicht, weil ich keine Batterie habe" angeboten wurde, und weil wirklich nur die Spannungsquelle fehlte. Dass die Uhr natürlich noch gereinigt wurde, ist klar. Aber das war auch das Einzige, was fehlte.

Frank

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